Filmrezension

Ein „Leuchtturmprojekt Demenz“ in Dänemark

Mit dem Dokumentarfilm „Mitgefühl – Pflege neu denken“ ist der Regisseurin Louise Detlefsen ein wunderbarer Film über die besondere Demenzpflege im dänischen Altenheim Dagmarsminde gelungen.

M. Rösner | 2. Mai 2022

Szene aus „Mitgefühl – Pflege neu denken“. May-Bjerre Eiby (rechts) zusammen mit einer Bewohnerin. Klicke aufs Bild, um zum YouTube-Trailer zu gelangen. (Foto: EclairPlay)

In Dagmarsminde leben zwölf Bewohner mit einer fortgeschrittenen Demenz. Das Heim wurde von der Krankenschwester May Bjerre Eiby gegründet. Zusammen mit ihren engagierten Mitarbeiterinnen, das Team besteht nur aus Frauen, hat sie ein neues ganzheitliches Pflegekonzept für Menschen mit Demenz entwickelt, das sie „Mitgefühl und Umsorgung“ nennt.

Im Film wird die Umsetzung dieses neuen Pflegekonzeptes dokumentiert. In einer Szene läuft Torkild, ein älterer Herr mit Demenz, unruhig durch die Flure des Pflegeheims. Schließlich läuft er zur Garderobe an der Eingangstür. Er nimmt die erste Jacke, die er greifen kann und zieht sie etwas umständlich an. Es handelt sich um eine elegante Damenjacke die Torkild an den Ärmeln viel zu kurz ist. Als er versucht seine Kleidung unter der Jacke zu ordnen, fängt er laut zu fluchen an, da sich die Schnur seiner Lesebrille im Kragen seines Hemdes verheddert hat. Eine Pflegekraft bemerkt Torkilds zorniges Verhalten und sieht, dass er die falsche Jacke trägt. Damit er mit seiner Vergesslichkeit nicht bloßgestellt wird kommt sie auf ihn zu und ruft dabei: „Torkild, soll ich dir deinen Mantel geben? Diese Jacke ist nicht warm.“ Sie sucht an der Garderobe nach seinem Mantel. „Mal sehen, nehmen wir den hier! – Wir tauschen einfach. Wenn du die Jacke ausziehst, kannst du den Mantel anziehen.“ Sie hilft ihm in den Mantel hinein. Torkild lässt es leicht verwundert mit sich geschehen und erwidert ein „Ja, ja o. k“. Seine Aggression ist verflogen.

Die Pflegekraft hat in diesem Moment sehr „mitfühlend“ mit dem Satz „Diese Jacke ist nicht warm“ auf Torkilds Verwechslung reagiert. Denn das Problematische an der Demenz ist, dass der Betroffene, wenn er mit seiner Vergesslichkeit kompromittiert wird, anfängt an sich selbst zu zweifeln. Die Selbstzweifel können zu einem sozialen Rückzug und zur Einsamkeit führen. Doch in Dagmarsminde versuchen die Pflegekräfte soziale Einsamkeit zu vermeiden. Stattdessen wird ein Gemeinschaftsgefühl zwischen den Bewohnern und den Pflegekräften aufgebaut, ähnlich wie in einer Großfamilie. Außerdem wird versucht den Bewohnern trotz schwerer Demenz ein glückliches Leben zu ermöglichen.

Die Natur mit allen Sinnen zu erleben ist eine wichtige Behandlungsmethode im „Mitgefühl und Umsorgungs“- Konzept. (Foto: EclairPlay)

Kuchen und Sekt statt Medikamente

Neben der Umsetzung des Pflegekonzeptes wird im Film auch der Alltag von May Bjerre Eiby, ihrem Pflegeteam und den Bewohnern gezeigt. Dabei fällt auf das Dagmarsminde modern und gemütlich eingerichtet ist und mitten in der Natur liegt. Es gleicht einem kleinen Gehöft mit Garten, Hühnerstall, einer Katze sowie einem Hund, der oft im Heim auf dem Boden schläft und die Bewohner spekulieren lässt, ob er noch lebt.

Die Szenen im Film wechseln zwischen dem Alltag der Bewohner und den Gesprächen, die die Pflegekräfte im Personalzimmer über sie führen. In den Gesprächen werden zwischenmenschliche Vorkommnisse besprochen und überlegt, wie es dem jeweiligen Bewohner mit dieser Situation ergangen ist und welche Pflegemaßnahmen daraufhin durchzuführen sind.

Der Zuschauer erfährt, dass es für die Pflegerinnen nicht wichtig ist, wie sonst in der Pflege von Menschen mit Demenz üblich, die Vergangenheit ihrer Bewohner genau zu kennen und sie an diese zu erinnern. Stattdessen lenken die Pflegekräfte die Bewohner, bzw. „ihr erleben“ auf das Hier und Jetzt. Dies geschieht, um ihre Demenzsymptome zu mildern und ihre Lebensqualität zu verbessern. Auf Medikamente wird so weit wie möglich verzichtet, da es durch diese Pflegemethode nicht nötig ist welche zu geben. Priorisiert werden bei diesem Pflegekonzept Umarmungen, Berührungen, Gespräche, Humor und Augenkontakt. Zu diesem Konzept gehört es die Natur zu spüren und Freude an der Gemeinschaft zu erleben, insbesondere durch gemeinsames Feiern von Festen mit Kuchen und Sekt.

Und in dem kleinen dänischen Pflegeheim findet sich immer ein Anlass zum Anstoßen wie z. B. der Geburtstag der dänischen Königin, ein Hochzeitstag oder beim Abschiednehmen auf einer Trauerfeier.

Auch nur mit Wasser anzustoßen fördert ein Gemeinschaftsgefühl. (Foto: EclairPlay)

Ein Dokumentarfilm im Vérité-Stil

Der Film wurde in einem ruhigen Erzähltempo mit sanften Bildern und langsamen Schwenks dargestellt. Statt einer musikalischen Untermalung gibt es eine Unterströmung von Naturgeräuschen, wie dem Rauschen der Bäume, der die natürliche und ganzheitliche Behandlung gut widerspiegelt. Da es keine Voiceoverstimme gibt und nur die Menschen im Film sprechen, die der Zuschauer sieht, fühlt es sich an, als wäre man mitten im Filmgeschehen. Dadurch gelingt es dieser Dokumentation, den Betrachter emotional mit dem Alltag von Menschen mit schwerer Demenz zu verbinden.

Tiere helfen Menschen mit Demenz sich wohlzufühlen im „Hier und Jetzt“. (Foto: EclairPlay)

Über die Regisseurin Louise Detlefsen

Als Zuschauer merkt man es der gefühl- und respektvollen filmischen Umsetzung dieses schwierigen Themas an, dass die dänische Regisseurin Louise Detlefsen schon seit fast 20 Jahren Erfahrung im Drehen von Dokumentationen hat. Im Laufe ihrer filmischen Karriere dokumentierte sie oft Themen, in denen das Bedürfnis von Menschen dazuzugehören und ein Teil einer Gemeinschaft zu sein, im Mittelpunkt stand.

Nicht nur in Dänemark, sondern auch international erlangte sie mit ihrer Arbeit größere Bekanntheit. Für „Lovebirds“ (2014), ein Dokumentarfilm über das Liebesleben von drei jungen Freundinnen in Kopenhagen, gewann sie den Bent Award 2014. Der Preis wird vom Mix Copenhagen – LesbianGayBiTrans Film Festival vergeben an Filme die glaubwürdig schwule, bisexuelle oder transsexuelle Charaktere zeigen. Der Film „Fat Front“ (2019) dokumentiert das Leben über Body-Positivity-Aktivistinnen und wurde auf dem Dokumentarfilmfestival IDFA in Amsterdam gezeigt. Auch „Mitgefühl – Pflege neu denken“ war im Jahr 2021 ein Filmbeitrag beim Kanadischen Hot Docs Festival in Toronto.

Mehr über Louise Detlefsen erfährst du in dem Artikel Louise Detlefsen: Eine intuitive Dokumentarfilmerin.

Durch das ganzheitlichen Pflegekonzept werden Medikamente durch ein menschliches Miteinander wie Berührungen ersetzt. (Foto: EclairPlay)

Mit viel Frauenpower zu einem liebevollen Pflegeheim

Ein Pflegeheim wie Dagmarsminde kann man nur gründen, wenn man seinen Beruf leidenschaftlich liebt. Genau das trifft auf May Bjerre Eiby zu. Sie ist ausgebildete Krankenschwester mit einem Masterabschluss in Krankenpflege. Ihr Fachwissen hat sie genutzt, um das ganzheitliche Pflegekonzept „Mitgefühl und Umsorgung“ mitzuentwickeln. Das Konzept wurde inspiriert von den Pflegemethoden, die Florence Nightingale vor 150 Jahren erstellte, sowie den Theorien des dänischen Philosophen Knut Ejler Løgstrup und der norwegischen Pflegewissenschaftlerin Kari Martinsen.

Doch bevor es zur Eröffnung von Dagmarsminde kam, war es für Eiby ein harter Weg. Sie musste als Pflegerin in einem Heim arbeiten, in dem weder das Personal noch die Bewohner glücklich waren. Nachdem ihr Vater an Demenz erkrankte und einsam in einem Heim starb, beschloss sie, eine bessere Pflege für Menschen mit Demenz zu entwickeln. Nachdem sie sieben Jahre gespart hatte, konnte sie ihren Traum von einem eigenen Pflegeheim verwirklichen. Im Jahr 2016 gründete sie Dagmarsminde.

Ein fröhliches Leben trotz Demenz. (Foto: EclairPlay)

Heute ist May Bjerre Eiby Unternehmerin und leitet ihr Pflegeheim. Sie ist weiterhin in der Pflege tätig und kennt jeden ihrer Bewohner. Eiby hält Vorträge vor internationalem Publikum über ihr Pflegekonzept und schreibt darüber Bücher. Im Jahr 2017 veröffentlichte sie ihr erstes Buch mit dem Titel „Når omsorg er den bedste medicin“ (etwa: Wenn Pflege die beste Medizin ist). Im Jahr 2020 folgte „Omsorgs Manifestet – Hvordan vi skaber verdens beste plejehjem“ (etwa: Das Pflegemanifest – Wie wir das beste Pflegeheim der Welt bauen). Beide Bücher sind nur in dänischer Sprache erhältlich.

Plädoyer für menschliche Zuneigung in der pflegerischen Behandlung

Der Film überzeugt durch zwei Sichtweisen. Auf der einen Seite wird im Film auf bemerkenswerte Weise gezeigt, wie es ist, sein Leben mit einer schweren Demenzerkrankung zu leben. Auf der anderen Seite schafft es die Dokumentation mit ihren teilweisen sehr intimen Bildern zu berühren und nachdenklich zu stimmen. Sie zeigt mit welchen natürlichen Pflegemethoden Bewohner trotz schwerer Demenz in einer Gemeinschaft ein fröhliches Leben haben können. Wunderschön ist dazu die Abendstimmung mit der Kamera eingefangen worden, in der alle Bewohner und Pflegekräfte zusammen im Garten um ein Lagerfeuer sitzen. Jeder genießt eine Schale Tiramisu, schaut ins knisternde Feuer oder bewundert den aufgehenden Sternenhimmel. Selbst der sonst eher grummelige Heimbewohner Torvid fängt bei diesem gemütlichen Miteinander an, eine Melodie vor sich hin zu singen und Eiby, die das bemerkt, ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.

Der Film ist zudem ein Plädoyer für viel mehr menschliche Zuneigung und Berührung in der Behandlung zwischen Erkrankten und Pflegekraft. Sehr eindrucksvoll ist dabei die Aussage von Eiby: „Wir glauben an Mitgefühl als Behandlungsmethode. Dagmarsminde ist kein Heim für Reiche. Wir haben nicht mehr Mittel als andere Pflegeheime. Laut unserer Statistik liegen wir im Schnitt unter einem Medikament pro Tag. Das ist ziemlich niedrig. Der normale Durchschnitt liegt bei zehn.“

Diese Aussage zeigt auch, wie wichtig es ist, dem Pflegepersonal wieder mehr Mitsprache im Behandlungsprozess zu geben. Denn eine Pflegekraft kennt die menschlichen Bedürfnisse ihrer Patienten durch ihre Ausbildung genau. Und diese bestehen nicht darin unsinnige Medikamente mit möglichen Nebenwirkungen zu schlucken und einsam im Zimmer zu sitzen.

Durch das Pflegekonzept „Mitgefühl und Umsorgung“ ist es daher möglich, auf einfache Weise das Ansehen des Pflegeberufs wieder attraktiver zu machen.

Fazit: Optimistischer und „mitfühlender“ kann eine Dokumentation über ein lebensbejahendes Pflegekonzept für Menschen mit Demenz nicht sein.

Mehr Infos zum Film:

Titel: Mitgefühl – Pflege neu denken

Genre: Dokumentarfilm

Regie: Louise Detlefsen

Produktionsfirma: Weltkino

Erscheinungsdatum: Im Kino seit September 2021, auf DVD seit Februar 2022

Altersempfehlung: Freigegeben ohne Altersbeschränkung

Dauer: 96 Minuten

Mehr über das Pflegekonzept „Mitgefühl und Umsorgung“ erfahren:

Hier kommst du auf die Internetseite von May Bjerre Eiby, auf der über das Pflegekonzept „Mitgefühl und Umsorgung“ informiert wird: https://www.maybjerreeiby.dk/